Andreas Hüneke: Quadrille
Von dem 1980 entstandenen Bild »Quadrille« von Carl Marx,
einem wild stampfenden Tanz mit zwei Frauen, einem dunklen,
bärenartigen Wesen und einem hochbeinigen Vogel in dunkel
glühenden Farben, fühlte ich mich an die spukhafte,
bedrohliche Ausgelassenheit des ›höllischen Gelichters‹ in
Michail Bulgakows Roman »Der Meister und Margarita«
erinnert. Marx kannte das Buch nicht. Ein paar Jahre später
erwischte er ein Exemplar davon und schrieb:
»Als ich zum Anfang las: Pilatus, weißer Umhang, mit
schlurfendem Kavalleristengang da wusste ich, das wird mein
Buch Ja, und höchst verblüffend jetzt mein Bild anzusehen
›Quadrille« mit der roten Margarita, wie treffend zum
Buchstoff... seltsam.« (Brief vom 29.12.1983)
Das Buch, dass zwischen der Realität und irren Visionen
wechselt, beschäftigte ihn lange, und zwei Jahre später
entstand das Bild zum Roman, »wo die ganze Bande, Margarita
auf dem Rücken des Katers, über eine Landschaft fliegen...,
ich habe eine Küste Afrikas gewählt.« (Brief vom 29.8.1986)
Da meldete die Zeitung, dass ein ungarisches Theater die
Bühnenfassung des Romans in Berlin aufführen werde. Marx
wollte die ›grossartigen Typen‹ sehen.
Der Vorgang ist typisch für Marx, dem alle Realitätsebenen,
Eindrücke und Empfindungen in eins flossen: das alltägliche
Leben, Zeitungsnachrichten, Kunst, Literatur, Theater,
Musik, seine Wünsche, Erkenntnisse und Phantasien, seine
Lust am Leben und sein Zorn. Aus all dem formten sich seine
Bilder voll farbiger Glut und Dynamik, die sich die Hände
reichen zu einem wilden, übermütigen, lustvollen und
manchmal auch bedrohlichen Tanz, einer Quadrille, begleitet
von glucksendem Lachen und sardonischem Gelächter.
1. Alltägliche Attraktionen
Attraktionen begegnet man im Zirkus. Auch Carl Marx liebte
diese Welt der staunenswerten Schaustellung. Der Clown
taucht in seinen Zeichnungen fast gleichberechtigt mit den
weiblichen Akten auf, daneben in seinen Bildern immer wieder
die verschiedensten Artisten mit ihren glitzernden Gewändern
und verblüffenden Tätigkeiten. Aber dem Maler war darüber
hinaus auch der ganz normale Alltag voller optischer
Sensationen. Schon ein Spaziergang durch die Kleinstadt
Dessau, ein Besuch im Strandbad oder in der Disco konnten
ihn in euphorische Zustände versetzen, wenn er das Verhalten
der Jugendlichen beobachtete, ihre der wechselnden Mode
unterworfene Kleidung, die Frisuren, die gefärbten Haare,
die herausgekehrte Lässigkeit, das scheinbar zufällige sich
Präsentieren, die selbstvergessene Ekstase der ›Fans‹.
Besuche in Leipzig oder Berlin gar lieferten ihm ›Pulver‹
für ganze Reihen explosiver Bilder.
Von der Expressionisten-Ausstellung 1986 in Berlin schrieb
er: »Verblüffend, einbezogen zu den Bildern, dieser jetzige
Habitus, lange Röcke, Hackenstiefeletten, Schals noch und
noch – farbig, die Burschen Igel oder Mähnen, alles lange
und genau betrachtend, ohne in Ekstase zu fallen [...] Habe
jetzt ein Langformat gemalt ›in der Expr.-Ausstellg.
Berlin‹, da konfrontiere ich diese jungen Leute mit Marc –
Kirchner – Lehmbruck – Da steht im Raum mit dickem Hintern
das blaue Pferd (im Bild nur ab Hals in die Landschaft
reinstossend) und links eine blauhaarige mit hellblauem
Anorak – und praller rosa Stiefelhose – und auch einen
prallen Arsch (wie Marc-Pferd) in der Hose.... dann
Brücke-Bild vom Kirchner, diese bräunlich-rosé Figur in der
Mitte ist vorgetreten, gross, und wird von 2 Typen
betrachtet, dann die knieende, etwas demütig beugende
Mädchenplastik Lehmbrucks, dahinter eine robuste Brillenbewehrte rundgesichtige Junge mit blau-weiss-gelb
Schal u. Pulli.« (Brief vom 24.1.1987)
Das tatsächlich Gesehene vermischt sich mit Erinnerungen an
Kunstwerke, mit Zeitungsnachrichten und der freien
Phantasie. Auf vielen Bildrückseiten kleben
Zeitungsausschnitte, die in lose assoziativer oder direkter
Verbindung zu dem Bild auf der Vorderseite stehen. Drei
unterschiedliche Berichte über Frauenhandball finden sich
auf dem Bild
»Tor... !«‚ auf dem die Frauen aber statt des
Sportdresses nur Hackenschuhe oder Stiefel tragen. Wie im
Tanz wirken die beiden Frauen, die ihre Arme vor
Begeisterung emporgerissen haben, während die Torfrau sich
kopfüber gestürzt hat und doch den Ball vorbeilassen mußte.
Marx liebte es, wenn seine Bilder ›frivol‹ waren.
II. Gelächter im Laboratorium
»Nein, ich bin ja kein Komiker, habe keinen Frisiersalon,
sondern ein Röntgenlabor«, meinte Marx. (Brief vom 6.3.1981)
Er hat die Handlungsweise der Menschen und die
gesellschaftlichen Ereignisse stets kritisch beobachtet, in
seinen Bildern gleichnishaft dargestellt, und er hat sich
oft genug unmittelbar zu Missständen geäußert. So sehr seine
Kunst auf Optisch-Äußerliches reagiert, so sehr sie in
Farbklängen schwelgt, so geht es doch immer wieder um innere
Vorgänge im Menschen und um sein Verhältnis zur
Allgemeinheit. Habsucht, Eigennutz und Machtgier waren für
Marx wohl die schlimmsten Geißeln der Menschheit, und er
wurde nie müde, sie aufzuspüren und in seinen Bildern an den
Pranger zu stellen. In seinem Röntgenlabor durchdrang er den
äußeren Schein und stellte das klägliche Innere bloß. Hierin
ist seine Kunst den Arbeiten von Otto Dix oder George Grosz
aus den zwanziger Jahren verwandt. Aber Marx blieb nie in
der Verbitterung und Verachtung, im Hass stecken. Stets sind
seine Analysen ironisch gebrochen, lacht hinter dem Ernst
ein Witz hervor, leuchtet aus dem Dunkel eine reine,
lebensvolle Farbe.
Als ihm die Reise zu einer Bauhaus-Ausstellung in Brüssel
verwehrt wurde, versetzte er sich dennoch – im Bild – an den
Ort seiner augenblicklichen Sehnsucht: mit Sonnenbrille,
damit ihn niemand erkenne. Und ›Männeken piss‹ drückt seine
Verachtung für die funktionierenden Funktionäre aus: sein
Strahl trifft den Vogel, der auch ›Sekretär‹ heißt. Dem
›Funktionär‹ tippt einer überlegen auf die Schulter – das
ist das Bild der ›Wende‹ 1989. Auf der Rückseite klebt ein
Ausschnitt der Serie LMM (= »Leser machen mit«) der
satirischen Zeitschrift »Eulenspiegel«, in der sich Leser zu
vorgegebenen Zeichnungen oder Photos witzige Unterschriften
ausdenken sollten. Dort ist auf einem Photo Egon Krenz im
Gespräch mit einem alten Arbeiter zu sehen. Marx schrieb darunter: »Geh' in Rente, Egon!«
Auf einem anderen Bild wird Madame la Mort aus Jean Cocteaus
»Orpheus und Eurydike« mit Fidel Castro, ihrem ›kleinen
Diktator‹, konfrontiert; auf der Rückseite ein Ausschnitt
aus der »Welt« aus dem Jahr nach der Entstehung des Bildes
»Der Castro-Clan bäumt sich noch einmal auf«. Im
Röntgenlabor des Ateliers war etwas entstanden, was in der
Realität ein Echo fand. Und begleitet wurde es von dem
Gelächter des Künstlers, der allen Gespenstern der
Vergangenheit und Gegenwart den lustvollen Gebrauch seiner
fünf Sinne als ›Firewall‹ entgegenhielt.
III. Don Juan und die Liebe zur Geometrie
Jeder, der sein Werk auch nur ein wenig kennt, weiß, daß die
prallen, Iebensvollen, kessen und frivolen Frauen das Metier
von Carl Marx waren: Don Juan – ein selbstverständliches
Thema. Was aber soll dieser Maler mit der Geometrie zu tun
gehabt haben? Gewiss, er hatte einst am Bauhaus studiert,
aber davon ist in seiner Kunst doch längst nichts mehr
spürbar. Rückseitig klebt auf seinem Gemälde
»Don Juan
erinnert sich« ein Zeitungsausschnitt über eine Aufführung
von Max Frischs Komödie »Don Juan oder Die Liebe zur
Geometrie« im Landestheater Halle 1988. In die Besprechung
wurde auch der Hinweis auf eine Max-Bill-Ausstellung in
Leipzig einbezogen, was Marx am Rande mit Ausrufezeichen
vermerkte. Seit der Bauhaus-Wiedereröffnung 1976 hat sich
der Maler in wachsendem Maße gedanklich mit dieser Tradition
auseinandergesetzt. Dabei spielten der prägende Grundkurs
und die phantasieanregenden Bauhausfeste eine herausragende
Rolle, überraschenderweise aber auch die konstruktiven,
geometrisch-abstrakten Tendenzen.
In seinen letzten Lebensjahren wandte Marx sein Interesse
ganz besonders der Kunst des russischen Konstruktivisten El Lissitzky zu, von dem 1988 in Halle eine
Übersichtsausstellung gezeigt wurde.
Das Gemälde
»Der Kommissar und die Kokotte« ist eine
›Hommage a Lissitzky‹. Auf der Rückseite ist die Geschichte
eines Theaterstückes vermerkt: Die Komödie »Ich will ein
Kind haben« von Sergei Tretjakow, deren Aufführung unter Wsjewolod Meyerhold mit der Ausstattung Lissitzkys 1937
verboten worden war, kam 1989 im Berliner Ensemble heraus.
Für Marx war es die Geschichte einer emanzipierten Frau, die
für ihr Lebensziel, ein Kind zu haben, eines Mannes nicht
bedurfte. Das Bild ist gewiss eines der abstraktesten, die
Marx geschaffen hat. Das Erzählerische ist in den
Hintergrund gedrängt. Aber konstruktiv-geometrisch ist es
nicht.
Die durchscheinend aufgespachtelten und zerkratzten
Farbpartien der späten siebziger und frühen achtziger Jahre
hat Marx in diesen letzten Bildern wieder verlassen. Rein
leuchtende opake Farbfelder sind aneinandergesetzt, sparsam,
fast karg im Vergleich zu früheren Werken, und doch von
einer ungeheuren farblichen Brisanz und Expressivität.
Vielleicht ist er hier seiner Lebensform am nächsten
gekommen. Denn Marx verkörperte die seltene Verbindung eines
Vollblut-Asketen. Die asketische Lebensform geht im
allgemeinen einher mit einem Verzicht auf oder einem Verlust
an Sinnlichkeit. Bei Marx verband sie sich mit höchstem
sinnlichem Lebensgenuss.
IV. Gott und die Welt
Man vermutet asketisches Leben weder hinter seinen Bildern
noch hinter seinen Äußerungen: »Mir ist jedoch die
lutherische Religion zu hausbacken... so bieder gläubig...
Da habe ich lieber eine zauberhaft dekorierte Barock-Kirche
wo junge hübsche Frauen auf den Knien liegen und ihre Sünden
von gestern, herzzerreissend ihrer Lieblings-Madonna
beichten und um Gnade bitten... dann... sind sie durch die
Kirchentür, blinken ihre lüsternen Augen auf ein neues...
Solch Glauben ist eben ›zweckbestimmt‹ und alles, jede
Zeremonie ist ein fascinierendes Schauspiel... wäre ich
nicht so ein harter Atheist, würde ich katholisch werden.
Schon als Maler..... « (Brief vom 25.1.1983) Gott und die
Götter waren dem Maler eins: Möglichkeiten, Gleichnisse über
die Welt zu formulieren; ob nun Poseidon mit Sirenen tanzt
oder Gottvater Eva instruiert, so dass Adam, erschrocken
über das, was da auf ihn zukommt, die Hand vor den Mund
schlägt.
Auf dieses Bild spielte Marx ein Jahr später wieder an, als
er sich darüber empörte, dass im Büro des Oberbürgermeisters
ein Kruzifix aufgehängt worden war. »Doch nehmen wir an Carl
Marx, der Maler, würde Bürgermeister. Er ist von Schulkind
an Atheist. Sein Vater Sozialdemokrat, baute sich ein
Weltbild ohne Gott, ohne Allah...! ›Bürgermeister Marx‹ in
seinem Regierungszimmer demonstriert seine geistige Haltung,
(wie an seiner Haustür ›No shmoken‹ steht) so hängt er hier
ein Abbild von Gottvater in weissen Wolken... und quer
darüber ›No‹... Wie wäre man empört... mit Recht..!«
(Textentwurf vom 17.7.1990) Er vermutete, der Bürgermeister
wolle mit dem Zimmerschmuck ›Geldleute beschaffen‹, und
erinnerte daran, dass letztlich ›Geldleute im Tempel‹
Christus ans Kreuz schlagen ließen.
Dieser Vorgang dürfte der Anlass für das Gemälde
»Kreuzabnahme« gewesen sein, das in seiner einmaligen Ikonographie leicht als Blasphemie mißverstanden werden
könnte. Aber Marx hatte eine viel zu große Achtung vor
aufrechten Anschauungen und ehrlichem Glauben anderer, um
sie in den Schmutz zu ziehen.
Vielmehr drückt das Bild seine Befürchtungen aus, die neue,
von Geld und Kommerz bestimmte Zeit könne das positiv
Menschliche, wofür der Gekreuzigte als Symbol steht,
vernichten. Nur einer versucht, gequälten Gesichts, den
geschundenen Körper zu stützen, dessen linker Arm sich wie haltsuchend noch zum Kreuz emporreckt. Umgeben ist die Szene
nicht von den Leidtragenden und den Soldaten, sondern von
›Geldleuten‹ und einem wilden, erotisierten Treiben, das zum
Tanz um das goldene Kalb wird; in der Mitte die rote
Margarita. Seltsam... wie sich manche Dinge wiederholen und
verwandeln.
[aus dem Buch zur Ausstellung]
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